Freitag, 10. Oktober 2008
Ein Leben
Ich lernte Frau S. am 9. September 2001 kennen, als ich sie, die kurz zuvor in eine kleinere Wohnung in einem Stift ganz in der Nähe umgezogen war, in ein anderes Wahllokal begleitete - sie gehörte nach vielen Jahren nun zu einem anderen Wahlkreis und hatte die Benachrichtigungskarte nicht genau gelesen. Sie hakte sich bei mir unter und wir unterhielten uns auf dem kurzen Weg zum richtigen Wahllokal über veränderliche Wege, Gottes Fügung und über die einzige Partei, die man überhaupt wählen kann. Ich besuchte sie von da an unregelmäßig, holte sie manchmal von der Kirche ab, nahm sie mit auf den Spielplatz und in kleine Konzerte, und sie kam zu Kaffee und Mittagessen und auch zu meiner Geburtstagsparty. In ihrem Kühlschrank standen immer Heringssalat und Apfelsaft, in ihrem Kleiderschrank hingen Pelzmäntel in allen Farben ("wenn ich mal nicht mehr bin, dann suchen Sie sich da einen aus"), sie trug dezent gemusterte, dunkle Mousselinkleider oder feine helle Blusen, die ihrer Magerkeit hervorragend standen, und ihre ausgelesene Tageszeitung durfte ich immer mitnehmen. Gelegentlich nahm ich auch ihre federleichte Strickjacke zum Waschen mit, denn sie traute dem Wäschedienst nicht "für Wolle". Wir hielten uns an beiden Händen, wenn ich mich verabschiedete, und ihre Wangen dufteten nach Niveacreme.
Sie hatte als junge Frau ein Kind von ihrem Dienstherrn bekommen, für dessen Kinder sie als Privaterzieherin gearbeitet hatte. Nach stolzen einsamen Jahren fand sie Arbeit als Sekretärin und in ihrem neuen Chef den Mann für's Leben, den "besten Mann". Sie brachte wieder einen Sohn zur Welt. Der ältere Sohn starb im Alter von 37 Jahren an Leukämie, der jüngere über 60jährig durch Suizid, da war sie schon Witwe.
Aus einem Urlaub zurückgekehrt traf ich sie nicht zu Hause an, und auch ans Telefon ging niemand. Die Stiftsleitung teilte mir mit, sie sei in das nahegelegene Stadtteilkrankenhaus eingeliefert worden, erst vor wenigen Tagen. Dort fand ich sie, fast unsichtbar in dem großen Krankenbett, glücklich lächelnd, und sie wollte gerne im Rollstuhl hinausgefahren werden. Was sie habe? Sie wisse es nicht, sagte sie lächelnd. Ich gehörte ihr nicht an, daher hatte es gar keinen Sinn, das Personal nach Grund und Namen ihres Aufenthaltes zu fragen. Wann sie entlassen werden würde? Sie wusste es nicht und lächelte dabei.
Ihre Enkeltochter, welche sie viele Jahre lang nicht gesehen hatte, deren Besuch sie sich wünschte, und die ich auf Buchbinder-Wanninger-Art telefonisch im 600 km entfernten M. ausfindig gemacht hatte, konnte nicht kommen. Ich fütterte Frau S. bei meinen abendlichen Besuchen mit Obst und Käsebrot bis zu dem Tag, an dem sie keine Zähne mehr trug, sie wolle das nun nicht mehr. Eine vorbeikommende Krankenschwester streichelte ihre Hand und sagte, nein, sie müsse auch keine Zähne tragen, das sei schon in Ordnung so.
Es kamen Tage, an denen ich mit ihr sprach, und sie hörte nur zu; Tage, an denen ich nicht sprach und sie sah mich an mit wasserblauen hellen Augen. Ein Tag, an dem sie die Augen nicht öffnete. Ich schlug ihr vor, die Fotografien ihrer Söhne aus der Wohnung zu holen (was einige Mühe bei der Stiftsleitung kosten sollte, denn ich hatte keinen Schlüssel und wer sei ich überhaupt), da drückte sie mir die Hand, mit geschlossenen Augen. Ich rannte. Als ich mit den Fotos zurückkam, hatte sie dunkle Flecken im Gesicht, und wieder drückte sie meine Hand. Ich verließ sie mit dem Versprechen, am nächsten Tag gleich morgens wiederzukommen und stellte die beiden Bilderrahmen auf ihren Betttisch.
Frau Alexandra S. starb zwei Stunden später, am 9. Oktober 2003 um 20 Uhr, im Alter von fast 96 Jahren. Sie starb mit dem Lächeln im Gesicht, das sie auch im Leben nie verloren hatte.
Sie hatte als junge Frau ein Kind von ihrem Dienstherrn bekommen, für dessen Kinder sie als Privaterzieherin gearbeitet hatte. Nach stolzen einsamen Jahren fand sie Arbeit als Sekretärin und in ihrem neuen Chef den Mann für's Leben, den "besten Mann". Sie brachte wieder einen Sohn zur Welt. Der ältere Sohn starb im Alter von 37 Jahren an Leukämie, der jüngere über 60jährig durch Suizid, da war sie schon Witwe.
Aus einem Urlaub zurückgekehrt traf ich sie nicht zu Hause an, und auch ans Telefon ging niemand. Die Stiftsleitung teilte mir mit, sie sei in das nahegelegene Stadtteilkrankenhaus eingeliefert worden, erst vor wenigen Tagen. Dort fand ich sie, fast unsichtbar in dem großen Krankenbett, glücklich lächelnd, und sie wollte gerne im Rollstuhl hinausgefahren werden. Was sie habe? Sie wisse es nicht, sagte sie lächelnd. Ich gehörte ihr nicht an, daher hatte es gar keinen Sinn, das Personal nach Grund und Namen ihres Aufenthaltes zu fragen. Wann sie entlassen werden würde? Sie wusste es nicht und lächelte dabei.
Ihre Enkeltochter, welche sie viele Jahre lang nicht gesehen hatte, deren Besuch sie sich wünschte, und die ich auf Buchbinder-Wanninger-Art telefonisch im 600 km entfernten M. ausfindig gemacht hatte, konnte nicht kommen. Ich fütterte Frau S. bei meinen abendlichen Besuchen mit Obst und Käsebrot bis zu dem Tag, an dem sie keine Zähne mehr trug, sie wolle das nun nicht mehr. Eine vorbeikommende Krankenschwester streichelte ihre Hand und sagte, nein, sie müsse auch keine Zähne tragen, das sei schon in Ordnung so.
Es kamen Tage, an denen ich mit ihr sprach, und sie hörte nur zu; Tage, an denen ich nicht sprach und sie sah mich an mit wasserblauen hellen Augen. Ein Tag, an dem sie die Augen nicht öffnete. Ich schlug ihr vor, die Fotografien ihrer Söhne aus der Wohnung zu holen (was einige Mühe bei der Stiftsleitung kosten sollte, denn ich hatte keinen Schlüssel und wer sei ich überhaupt), da drückte sie mir die Hand, mit geschlossenen Augen. Ich rannte. Als ich mit den Fotos zurückkam, hatte sie dunkle Flecken im Gesicht, und wieder drückte sie meine Hand. Ich verließ sie mit dem Versprechen, am nächsten Tag gleich morgens wiederzukommen und stellte die beiden Bilderrahmen auf ihren Betttisch.
Frau Alexandra S. starb zwei Stunden später, am 9. Oktober 2003 um 20 Uhr, im Alter von fast 96 Jahren. Sie starb mit dem Lächeln im Gesicht, das sie auch im Leben nie verloren hatte.
[mors]