Dienstag, 8. September 2009
Homo sapiens
Ich muss sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, da wurde ich unsicher. Mir fiel besonders vor dem Einschlafen auf, dass ich nicht mehr alles denken konnte, was ich wusste. Ich konnte mein Dasein nicht umzäunen und abschreiten, und da nahm ich mir vor, alles aufzuschreiben, damit es einen Platz habe und nicht fliegen müsse rund um meinen Kopf. Alles, was ich wusste und konnte, wollte ich aufschreiben. Zuerst wären die Menschen niederzulegen, die ich kannte. Und als ich darüber nachdachte, wer das alles war, da waren es so viele, dass es kein Ende nahm, an sie alle zu denken. Ich sah sehr bald, dass ich die Frage, ob das, was mich zum Beispiel mit der Verkäuferin verband, die im Kupsch den Preis der Waren in die Kasse tippte oder mit den diversen namenlosen Leuten an der Kasse des Schwimmbads, dass ich die Frage, ob dieses Wissen der Gesichter "Kennen" genannt werden durfte, noch würde klären müssen, und dass ich überhaupt eine brauchbare und erschöpfende Unterteilung würde finden müssen für alle Leute (was tun mit den mir vom Sehen bekannten Nachbarn meiner Onkel und Tanten? Deren Kindern? Mit dem Vermieterehepaar im Haus meiner Großeltern? Mit Leuten aus dem Fernsehen? Autos und Tiere hatten die "lebenden Leute", wie ich diejenigen vorläufig nannte, die mir persönlich begegnet waren, zum Teil auch: wichtige Notiz zur Seite). Ich schrieb nicht ein einziges Wort auf, und der Gedanke an den nächsten Punkt, den ich mir vorgenommen hatte, nämlich niederzuschreiben, welche Farbe alle Dinge hatten, er brachte mich an einen Abgrund; zum ersten Mal sah ich in einen Abgrund. Da erkannte ich, dass ich verloren war.
[pavor]
kid37,
8. September 2009, 23:04
Ich sitze manchmal ganz sprachlos, wie elegant Sie diese Miniaturen formen.
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hora sexta,
8. September 2009, 23:13
Ich danke Ihnen sehr, lieber Herr Kid.
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hora sexta,
9. September 2009, 17:22
Von der irrenden Annahme, dass die sorgfältige Benennung eines Umstands, sei es mit einem poetisch duftenden Bild oder sei es durch einen wissenschaftlichen Terminus, jenen in eine für den Menschen nützliche oder auch nur tragbare Ordnung einbetten würde, leben ja gleich mehrere Berufsstände. Und dass das Wort dem Menschen keinen letzten, brauchbaren Trost zu spenden vermag, das ist eine große Schwierigkeit der Kirche. Nicht umsonst geht der gute Hirte aus, das verlorene Schaf zu holen, es auf den Armen nach Hause zu tragen, und nicht, um mit ihm zu sprechen.
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cabman,
9. September 2009, 21:43
Wie so oft viel zu groß, um ihm gerecht zu werden. Ich genieße und vermelde die Vollenendung. Natürlich mit Wasserzeichen.
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hora sexta,
9. September 2009, 22:36
Da danke ich Ihnen auch, Herr Cabman. Und "gerecht werden", ich weiß nicht. Wenn es Ihnen zu etwas anderem als bloßem Kopfschütteln Anlass gibt, dann freue ich mich.
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