Samstag, 6. Februar 2010

Die Tür zum Flur
Ein Mann steht auf. Er geht ins Badezimmer, dreht die Heizung etwas höher, zieht einen Bademantel über und betritt dann die Küche. Er schließt die Tür, öffnet das Fenster zum Lüften und füllt Wasser und Kaffeemehl in die Maschine. Einschalten, und der Kaffee wird fertig sein, wenn er vom Duschen kommt. Allerdings lässt sich die Küchentür nicht öffnen. Er drückt die Klinke fester nach unten, gibt der Tür einen Ruck, aber sie geht nicht auf. Der Mann ist müde. Ein paar Mal schließt er die Augen fest, atmet gepresst aus, hustet. Er bewegt den Knauf ein paar Mal klappernd, drückt mit seinem Gewicht dagegen - die Tür bewegt sich nicht. Ganz still steht er und blickt eine Weile auf die Tür, er fängt an zu frieren, denn er trägt nur den leichten Bademantel. Er geht zum Fenster, schaut hinunter in den Hof: alles still. Es ist kurz nach 6 Uhr, der Hof schläft und mit ihm das ganze Haus. Der Mann ist müde. Er schließt das Fenster, dreht auch hier die Heizung höher. Er versucht, die Tür zu öffnen, aber es geht nicht.

Auf dem Tisch finden sich Tabak und Blättchen, er setzt sich auf den kalten Stuhl und dreht sich eine Zigarette. Er hält sie reglos in der Hand, er klopft einige Male damit auf den Tisch, atmet tief ein. Die Tür zum Flur lässt sich also nicht öffnen. Sie klemmt schon lange, unten klemmt sie und oben steht sie ein klein wenig ab, wenn das Schloss nicht eingerastet ist, oft genügt es, sie einfach heranzuziehen und ein wenig anzuklemmen, will man den Dunst oder die Wärme in der Küche halten, schließen ist gar nicht nötig, und es geht nur mit Schwung. Nun ist die Tür aber geschlossen, er hat sie fest zugezogen, damit es nicht kalt werde in der ganzen Wohnung vom Lüften. Er zündet die Zigarette an, geht wieder zum Fenster und öffnet es, um den Rauch hinauszulassen. Der Hof schläft. Er lehnt sich mit dem Gesäß ans Fensterbrett und schaut die Tür gegenüber an, nach jedem Zug bläst er den Rauch über die Schulter hinaus, die Asche klopft er hinter sich am Fensterbrett ab, sie wird unten nicht ankommen, denn er wohnt im dritten Stock, Altbau, hohe Decken, schöne Wohnung eigentlich.

Fenster zu, die Heizung ist inzwischen heiß geworden. Ein Versuch an der geschlossenen Tür, dann nimmt er eine Tasse aus dem Regal und schenkt sich Kaffee ein, mit Milch, der Zucker ist nur für Gäste. Er setzt sich wieder an den Tisch. Wo ist das Telefon? Im Wohnzimmer. Es wäre auch viel zu früh, jemanden anzurufen. Ein Ersatzwohnungsschlüssel ist in Italien, bei seiner Freundin, den anderen hat sein bester Kumpel schon vor über einem Jahr verloren. Wo ist sein eigener Wohnungsschlüssel? In der Jackentasche, an der Garderobe. Um 9 Uhr hat er einen Termin, er ist früh aufgestanden, um sich noch vorzubereiten, die Unterlagen sind auch im Wohnzimmer, wahrscheinlich liegt das Telefon darauf. Der Kaffee tut gut, das Denken geht besser damit, und warm ist er auch. Noch ein Versuch an der geschlossenen Tür. Das Haus schläft noch. Er trinkt den Kaffee aus. Es ist Viertel vor sieben inzwischen.

Die Tür ist aus Holz, und sie klemmt schon lange. Er füllt ein Glas am Wasserhahn, trinkt einen Schluck, dreht noch eine Zigarette, die er auf dem Tisch liegen lässt. Mit der Schulter und mit Schwung, das könnte gehen. Er zieht den Bademantel enger (der Gürtel ist im Badezimmer). Er nimmt zwei Schritte Anlauf, linke Schulter voraus, er läuft mit einem Männergewicht gegen die Tür, die gewaltig knackt und zu bleibt. Am Rand einer Kassette ist ein frischer Riss im Lack zu sehen. Die Schulter schmerzt, das Geräusch der berstenden Tür, die doch fast unversehrt bleibt, hallt im Kopf lange nach. Er macht ein Küchenhandtuch nass, um damit die geprellte Schulter zu kühlen. Fenster auf, Zigarette, Fenster wieder zu, es hat Minusgrade draußen. Gegenüber ist Licht in einer Küche, die Rollos sind aber geschlossen.

Pinkeln. Er muss pinkeln. Die Nacht, der Kaffee, das Wasser, wie blöd kann man sein, denkt er. Er geht seine Töpfe durch, der Messbecher ist aus Metall, kein Problem, und dann ist ja auch noch die Spüle da. Notfalls, nur notfalls, die Vorstellung gefällt ihm nicht. Er schaut sich die Tür an, rüttelt an Klinke und Schloss, nichts bewegt sich. Dann sitzt er wieder am Küchentisch und wartet, worauf, das muss er noch herausfinden. Radio an, Radio wieder aus. Gute Laune, guten Morgen, die schönsten Hits, und das Wetter meint es gut mit uns heute, pfui. Er holt ein kurzes, stabiles Messer aus dem Messerblock und kratzt Kitt von einer der Milchglasscheiben im oberen Teil der Tür weg, es ist eine der Scheiben, die das Licht aus der Küche in den Flur lassen sollen. Eine dicke Lackschicht lässt das Messer immer wieder abrutschen, der Kitt ist hart wie Stein, es geht sehr langsam voran. Er könnte auch eine Scheibe einschlagen, aber dann hat er Scherben und muss wieder alles ersetzen, da will er die elegante Lösung versuchen, die, die er selbst reparieren kann, Kitt ist nicht teuer. Wie gerne würde er hinausschauen in den Flur, einen kleinen erhellenden Blick nur werfen in eine ferne Welt, welche die Antwort auf seine Frage geheim hält, aber sein Kopf wäre sowieso zu groß, auch wenn die Scheibe herauskommen würde. Nicht einmal eine der schmalen Seiten schafft er, da gibt er auf, zu gefährlich auch das mit dem Messer (Pflaster ist im Badezimmer, es hat seinen Platz eigentlich in der Küche, aber der letzte Besucher hat es mitgenommen und nicht wieder zurückgebracht), und zu langwierig. Inzwischen meldet sich nämlich der Darm, sein Morgenschiss, der zuverlässigste, den er kennt, keiner hat es so leicht mit der Verdauung wie er, kurz bevor er aus dem Haus geht erledigt er das immer, er könnte die Uhr danach stellen - heute ist er früher dran, kein Wunder, der Kaffee, die bedrohliche Situation, ihm ist schon seit einer halben Stunde sehr unwohl, gefangen sein in der eigenen Küche, so ein Scheiß. Er geht wieder die Töpfe durch, welchen kann er wegwerfen hinterher? Er liebt sie alle, er kocht leidenschaftlich gern, einen eingeschissenen Topf wird er nie wieder verwenden können, einfach weil er es immer wissen wird, was mit diesem Topf mal war. Eine Plastikschüssel, ja, die kann er entbehren. Küchenpapier ist auch da. Aber er nimmt sich vor, es einfach auszuhalten. Jetzt nicht weich werden. Dennoch steigt er auf den Stuhl und pinkelt in die Spüle, es geht nicht anders, er lässt Wasser aus dem Hahn nachlaufen, spätestens in der Wand geht ja sowieso alles durchs gleiche Rohr. Er friert.

Er raucht am Fenster die schon gedrehte Zigarette, er macht die Kaffeemaschine aus, er braucht keinen Kaffee mehr heute, er macht Wasser im Kocher warm, denn Leitungswasser ist zu kalt zum Trinken. Gleich halb acht. Um acht Uhr verlässt er die Wohnung an normalen Tagen, geduscht, nach einem Kaffee und zwei Zigaretten, mit seinen Unterlagen in der Tasche, die er schon memoriert hat, zufrieden, fast ganz wach. Normale Tage. Ja. Die Minuten vergehen, normale Minuten drüben, auf der anderen Seite des Hauses, wo sie noch schlafen oder schon ficken oder ihre Kinder wickeln oder schlagen oder gar nicht da sind.

Er hat Besen und Schrubber in der Küche, er entschließt sich ohne einen Gedanken, er entschließt sich gar nicht, er ist schon entschlossen. Er steigt auf einen Stuhl und drückt die obere, bei nur angeklemmter Tür lose Türecke mit seiner ganzen Kraft nach draußen, er muss aufpassen, dass der Stuhl nicht wegkippt unter ihm, aber es gelingt ihm, den metallenen Besenstiel mit einem Ende hinauszuschieben. Langsam zieht er ihn nach unten, die Tür gibt schlimme Geräusche von sich, irgendwann springt das Schloss auf. Die Tür lässt sich nicht öffnen, trotzdem. Sie scheint am Boden festgewachsen, festgeklebt, festgeschraubt, festgenietet, festgeschmolzen, festgezaubert. Er kann nun durch den Spalt die Decke im Flur sehen, der Flur ist also noch da, und wahrscheinlich auch das Haus und die Stadt und das ganze Italien. Er steigt vom Stuhl, pausiert, er ist außer Atem von der Anstrengung. Zehn Minuten vergehen. Er montiert den Stiel vom Schrubber ab und fädelt auch ihn durch den Spalt hinaus in den Flur. Auf dem Stuhl stehend kann er den Arm oben durch den Spalt stecken und mit dem Stiel in den Flur schlagen. Er zielt auf die Klinke der Wohnungstür, sie kommt gleich rechts neben der Küche, da ist der Flur zu Ende, er sieht nichts, aber er hört das Donnern des Schrubberstiels an der Tür, es muss auch im Treppenhaus zu hören sein, der Stiel ist also lang genug. Sein Arm hat Striemen vom Lehnen durch den schmalen Spalt, die Muskeln erlahmen schnell unter der enormen Hebelkraft des Stiels, er muss pausieren, aber im zweiten Durchgang hat er einmal Glück und trifft den Knauf der Wohnungstür, die, verzogen wie alle Türen in diesem Haus, aufspringt. Er hört sie gegen die Garderobe schwingen.

Ein Blick in den Hof: ein paar Fenster erleuchtet, er könnte nun ungezielt um Hilfe rufen, dass jemand heraufkomme und ihn befreie, aber jetzt hat er Zeit. Er trinkt einen Schluck warmes Wasser und zieht einen Stuhl ans Fenster. Die Nachbarin muss bald aufwachen, acht Uhr ist ihre Zeit. Ihre Wohnung geht um die Ecke, er kann ihre Fenster sehen, er muss nur warten. Wie das Licht bei ihr angeht, öffnet er das Fenster, Kälte egal, Leute egal, "Gudrun!" schreit er, "Gudrun! Hilfe! Gudrun!"

Und dann kommt sie in die Wohnung und kann nur mit Mühe den Klappstuhl anheben, der in dem schmalen Flur gegenüber der Küchentür am Regal gelehnt hat schon immer, und der an diesem Morgen um kurz nach 6 Uhr weggerutscht ist und sich mit Lehne und Füßen genau zwischen Küchentür und Regalfüßen eingeklemmt hat, flach auf dem Boden liegend.

Um 11 Uhr nimmt er an seinem Termin teil, den sie verschoben haben um zwei Stunden.

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