Freitag, 18. April 2008

... to the moon
Als ich Ende April 2003 auf dem Weg nach W. war, um meiner Mutter eine Freude zu machen, die darin bestehen würde, dass sie auf der Feier des 65. Geburtstages ihres Bruders nicht den fortwährenden und einen stichelnden Unterton schlecht verhehlenden Nachfragen der gesamten Verwandtschaft ausgesetzt wäre, warum denn ihre Kinder beide nicht gekommen seien, die Studien seien doch längst beendet, was machen die überhaupt zur Zeit, da bestieg ich einen sehr gut besetzten Zug, der mich zunächst nach F. bringen sollte. Ich fand zwei freie Sitzplätze, verstaute mein kleines Gepäck über den Köpfen und rückte zum Fenster auf; neben mir nahm eine sehr junge Frau Platz, die auf geheimnisvolle Weise den Eindruck machte, sie sei noch nicht oft Zug gefahren in ihrem Leben.

Vor mir ein Tisch, gegenüber ein Jüngling und schräg gegenüber, wiederum am Gang sitzend, ein Mann, der mich sofort an einen Schauspieler erinnerte. An welchen? Fernsehen. Tatort, irgend sowas. Der Zug fuhr an, und der junge Mensch beschäftigte sich sogleich sehr aktiv mit seiner Zeitung. Raschelnd und hektisch blätterte er vorwärts und rückwärts in einer schon etwas zerlesenen PM und der Zug hatte noch nicht die Reisegeschwindigkeit erreicht, da brach es aus ihm heraus. Ob wir, die Mitreisenden an diesem Vierertisch, auch schon von dieser unglaublichen Geschichte gehört hätten: Die Amerikaner seien gar nicht auf dem Mond gewesen! Alles Propaganda, alles Montage, die ganze Welt hätten die zum Narren gehalten, alles in geheimen Studios inszeniert, deshalb die Qualität so schlecht und die Fahne sowieso viel zu groß beziehungsweise zu klein, um auf den Aufnahmen überhaupt... Ich wandte mich ab und richtete den Blick aus dem Fenster, entschlossen, die Ruhe der letzten Stunden gebührend zu empfinden vor einer Feier, auf der ich oft gefragt werden würde, seit wann denn mein Studium beendet sei und was ich überhaupt mache zur Zeit. Der Mann schräg gegenüber griff zu einem Taschenbuch, das schon mit dem Titel nach unten vor ihm auf dem Tisch gelegen hatte (so mache ich das auch immer, denn es muss ja nicht jeder gleich die falsche Schublade aufmachen, um mich hineinzuverfrachten auf Ewigkeit, nur weil er meint, einen Blick auf den Titel auf meiner Reiselektüre erhascht zu haben). Das Mädchen neben mir konnte sich allerdings der Suada über die tollen und blitzfrechen Amerikaner nicht entziehen und antwortete wechselweise mit "ja?" und "das ist ja interessant". Es nahm kein Ende, die Amis konnten ja gar nicht oben gewesen sein, die Beweislage war erdrückend und wurde von allen Seiten beleuchtet und geprüft - man hatte die Wahl zwischen Entnervung oder Amusement.

Ich konnte mich in dieser Sache nicht sofort entscheiden, und mein Blick traf den des lesenden Herrn, der an meiner Kopfbewegung erkannt haben musste, dass ich mich interessierte dafür, welche Regung ihn beschäftige - nichts als Amusement kam mehr in Frage von diesem Augenblick an. Von unten sahen wir uns einen Moment lang an mit lachenden Augen und in restlosem Einverständnis darüber, was von dem gegebenen Schauspiel zu halten sei, ein kurzer Moment, und er widmete sich wieder seinem Buch, so wie ich wieder aus dem Fenster sah, das Prusten unterdrückend. Tatort? Und wie hieß der Kommissar? Und wie der Schauspieler? Das hat man dann davon, wenn man nicht fernsieht. Ich musste noch einmal hinsehen, ja, Tatort, oder Krimi jedenfalls, und da konnte ich auch das auf den Rand des Tisches gelehnte Buch erkennen: Benjamin von Stuckrad-Barre: "Deutsches Theater". Ich erschrak vor dem Gedanken, dass ich wirklich den Fernsehkommissar vor mir hätte und blickte wieder zum Fenster hinaus. Die Amerikaner waren immer noch nicht auf dem Mond gelandet. Auch die Fernsehstudios, alles Fake. Das konnte doch nicht sein, dass ein so bekannter Schauspieler die Bahn nimmt und zweiter Klasse durch halb Deutschland fährt, fliegt ein solcher Mensch denn nicht vorzugsweise? Unsere Blicke trafen sich erneut, nun geradeaus und nicht ertappt ausweichend.

Der Kommissar holte nach kurzer Zeit ohne vollständig aufzustehen mit einem einzigen kräftigen Griff eine Sporttasche aus der Gepäckablage über den Sitzen und zog Proviant hervor. Eine Flasche Mineralwasser, ein Apfel und mehrere säuberlich in Alufolie verpackte belegte Brote kamen zum Vorschein. Ein Mann, der sich verpflegt und morgens Brote fertigmacht, bevor er (sicherlich mit dem Fahrrad) zum Bahnhof fährt, der einen Apfel wäscht, eine Flasche Wasser aus dem Kasten nimmt und alles zusammen in der Reisetasche verstaut, die er am Abend vorher bereits gepackt hat, es fehlte nur noch die Zahnbürste. Ein Mann, der Essays liest. War das nun der mir nur flüchtig in Erinnerung gebliebene Schauspieler oder nicht? Konnte jemand auf irgendeiner Schule ein solches Kommissar-Seiner-Sache-ganz-sicher-Lächeln erlernt haben oder durfte ich mich an dem Gedanken ergötzen, ein Mensch besitze dieses Lächeln ohne technische Tricks? Er erlaubte mir, ihn für einige neugierige Momente zu betrachten, ohne dass er aufgeschaut hätte von seiner Lektüre, aber noch mehrmals freute ich mich auch über die freundliche und amüsierte Erwiderung meines Blicks, während ich mich zwischendurch, immer wieder dem Fenster zugewandt, der Frage hingab, wie schön es wohl sei, meinen Wohnungsschlüssel in der Hand dieses Mannes in der Tür zu hören.

Nach zwei sehr kurzen Stunden ohne Mondlandung und viel betrachteter und sofort vergessener Landschaft nahte F. Die Fahrt endete dort und alles stieg in heilloser Hektik aus. Meinen Vorsatz, doch noch ins Gespräch zu kommen, verwirklichte ich noch auf dem Ankunftsbahnsteig.

"Sie gefallen mir sehr, wenn ich das so sagen darf."

So war es, und wenn sein Lächeln wahr gewesen sein sollte, dann sollten meine ersten und letzten Worte, die ich an ihn richten würde, auch wahr sein.

"Das dürfen Sie." Er lächelte wieder. "Sie sind in N. zugestiegen, nicht wahr? Wohnen Sie dort?"

Ja, ich wohnte dort. Und er hatte bis vor drei Jahren auch dort gewohnt, sogar im selben Stadtteil wie ich, und ich kannte die Straße und ich kannte auch den Wald, in dem er damals, in N., immer gejoggt sei. Dann habe sich die Gelegenheit geboten, in B. den Posten des Geschäftsführers bei einem Automobilzulieferer zu übernehmen, und nach kurzer Pendelei sei er dann nach B. übergesiedelt. Ob ich B. kennte? Ja, eine sehr schöne, sehr angenehme Stadt. Das sei richtig, und er fühle sich dort sehr wohl. Ob ich noch weiterfahre oder hier in F. angekommen sei? Er sei auf dem Weg nach Bad H. zur Nachfeier der Hochzeit seines Freundes, dieser habe im kleinsten Kreis geheiratet im vergangenen Sommer und bereue nun, keine große Feier veranstaltet zu haben, und das werde nun nachgeholt. Er sei froh, dieses Wochenende mal rauszukommen, aber er werde morgen schon wieder zurückfahren. Ich auch? Na, so ein Zufall, und wieder lächelte er mir zu. Nein, Bad H. sei mit der S-Bahn zu erreichen, die müsse er nun finden.

Wir waren an den Treppen zu dem Gleis angekommen, an dem mein Anschlusszug schon wartete. Mit dem Wunsch, jeder möge eine schöne Feier erleben, verabschiedeten wir uns. Als ich mich beim Einsteigen umwandte, sah ich niemanden mehr.

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