Donnerstag, 28. April 2011

Ach ich grüß dich tausendmal


Also, ja. Wie ist es da. Schön. Schön leer. Auto auf einem geschotterten leeren Platz hinter einem verlassenen Bahnhof abstellen (ist ein Umsteigebahnhof stellt sich später heraus, das sieht man an den zwei Gleisen) und losgehen. Der Morgen ist mild, der Teich spiegelglatt, und im Frühtau fallen die Ohrwürmer der Kinderzeit sofort übereinander her. Komm doch, lieber Frühling, willkommen hier in unserm Tal. Die Lerche schwingt sich in die Luft, fallera. Danke für diesen guten Morgen! Ich geh durch einen grasgrühünehen Wald, und dann alles einen Halbton höher.

Über Wiesen und Höhen geht es voran, das ganze scheint ein Bilderbuch für sehr artige Kinder zu sein, hier trinkt ein Wanderer aus einem frisch vom Berg herunterplätschernden Bächlein, dort hoppelt ein Hase, der hat bestimmt gerade dem Fuchs guten Morgen gesagt, und im Hintergrund dampft ein Bähnchen mit Tender und drei Wagen durch die Landschaft. Horch, von fern ein leiser Harfenton - meint man. Wenig später wird es dann ein aufdringliches Biologiebuch von rechts und von links. Wegerich und Plagerich, Leberblümchen, Rindermöschen, Löwenhälmchen und Maigrünchen, Gimpel, Stelzen, Felchen, Schleien. Dauernd erschrickt man vor irgendwas, entweder tritt man fast auf eine grüne Schlange, die auf dem warmen Weg liegt, oder auf etwas, was eine Eule ausgekotzt hat, oder auf einen von fünfundzwanzig Lurchi-Salamandern, die sich nicht beeilen, da wegzukommen. Minischnecken, Riesenschnecken, gestreifte Schnecken, ein Reh steht plötzlich quer mitten im Weg, oder neben einem flattert es ganz laut aus einem haushohen Misthaufen direkt am Weg, das ist dann ein Milan, der sofort den Kreis macht, ohne viel Flügel zu gebrauchen. Man glaube nicht, dass diese Raubvögel da kreisen, um Mäuse zu fangen. Nein. Nicht viel tun und Spaß haben, Ostdeutschland eben. Zwischendurch fährt einem Henriette Bimmelbahn fast über die Zehen. Und die Lerchen, die sollten eigentlich Lärmchen heißen, kaum hat man eine hinter sich, zwiebelt die nächste überm Feld rum, und sonst ist ja nichts zu hören.

Woanders muss man früh dran sein, um der Masse vorneweg zu laufen, aber hier spielt das keine Rolle, hier gibt es keine Masse, hier gibt es gar niemanden. Kein Mensch unterwegs, keiner sitzt auf den verwitterten Bänken, keiner kommt entgegen, den ganzen Tag nicht. Gegen Mittag wird den Füßen ein kleiner Umweg durch eine sogenannte "Stadt" zugemutet auf der Suche nach einer Tasse Kaffee oder vielmehr einer Lokalität, jedoch die beiden Gaststätten mit respektablen Namen sind verlassen, hinter einer der Scheiben hängt eine vergilbte Ankündigung des Bezirksamts Prenzlauer Berg "zu Berlin" aus dem Jahr 2006, damals hat man die Immobilie für 3000,- EUR angeboten und keiner hat sie gekauft. Auch hier, in der "Stadt", kein Mensch zu sehen, dem man eine einfache Frage stellen könnte. Am Ortsrand dann, zurück auf dem Weg, ist am Bahnhof ein "Geöffnet"-Schild aufgestellt. Andernorts würde, wo sich an einem sonnigen Ostermontag in der hohen Mittagszeit mindestens vier Wanderwege kreuzen, der Eingang zu einem kleinen steinigen Vorgarten mit den 750-Karätern der Vollradfahrer und ihrer weiblichen Entourage in Caprihosen und Funktionsshirts zugeparkt sein, hier aber sitzen unter drei weißen Sonnenschirmen ein paar Omis in Rüschenblusen auf wackeligen Stühlen und essen Schnitzel mit ihrer Familie. Sie schauen nicht auf, wenn jemand hinzutritt und grüßt, die Wirtin scheint den neuen Gast nicht bemerkt zu haben, oder doch, denn wenn sie an den Tisch tritt und das Kinn schnell nach vorne bewegt, dann muss man bestellen, es ist die einzige Gelegenheit seit dem frühen Morgen und die letzte bis zum Abend. Die Tasse Kaffee wird mit dem Kommentar "eins fünfzisch" serviert, ein versteckter Hinweis darauf, dass die einheimische Bevölkerung sprechen kann.

Kein McDonald's, kein Biergarten, kein Seecafé nirgendwo, auch abends im Hotel in einem einst ein Nobelbad gewesenen Nest gibt's keine anständigen Pommes, man muss da Forellencarpaccio und Spargel mit einer dicken gelben Soße essen (keine Majo, irgendwas anderes), und zum Frühstück gibt's schon wieder Spargel, diesmal unreifen, grünen, und nicht einmal gekocht, sondern mit Tomaten und noch irgendeinem Salat und komischen kleinen Nüssen dabei. Das schnieke Hotelschwimmbad ist auch nicht toll, nichtmal einen Sprungturm hat es, und wenn man eine gepflegte Arschbombe macht, schauen die alten Damen im Becken ganz komisch. Überhaupt, morgens tut einem das Herz weh, abends stattdessen die Füße, das ist alles kein Spaß, und das Handy hat auch kein Netz. Kaffee: eins siebzig.

An einem anderen Tag geht es nach Kletterei über Wurzelwege und durch Felstunnel immer am Fluss entlang, mal Linkskurve, mal Rechtskurve, 13 Kilometer, eine Aue wie aus einem Märchenbuch, das keinen Ausgang hat, und wieder kein Mensch. Dafür Burgen auch links und rechts, und am Ende ein richtiges Schloss. Wenn man in der sehr hübschen Schänke eines sehr hübschen anderen Schlosses (Kaffee: eins neunzig) dann endlich einen sprechenden Menschen an den Tisch oben an der hohen Grabenmauer kommen sieht, dann hat man den ganz allein für sich und er erzählt ausführlich und angenehm fließend von sämtlichen geologischen Formationen, von Mesozän und Pleistobrom, von Kaisern, Töchtern, Grafen und Fürsten, und vom Sozialismus und seinen Wissenschaftlern, die so manches gerettet haben vor denen, die sonst überall zugriffen, von Ascaniern, Preußen und von Anhaltinern. Warum das dort Anhalt heißt, ist jetzt auch klar: man müsste dauernd überall anhalten, da gibt es so viele Gärten und gepflasterte Plätze und Jagdschlösser und echte Ritterburgen und eine Kirche, die ist über 1000 Jahre alt, und keiner hat da irgendwas dran gemacht, außer ein bisschen hier verputzt und dort gekehrt, und weil 1000 so viele Os hat, heißt sie "ottonisch", und nirgends steht ein abschreckender Reisebus davor. Aber als Wanderer hat man keine Zeit und keine Füße, noch zwei Kilometer auf irgendeinen Berg hinauf oder in irgendeinem Schlossgarten im Kreis zu laufen, und das ist gut so, denn sonst müsste man den ganzen alten Scheiß auch noch anschauen, neben den ganzen Wäldern und Wiesen und Felsen.

Übrigens haben sie dort schon siebenhundertnochwas das Silicon Valley erfunden, aber wenn man es natürlich nach kaum 700 Jahren kaputt gehen lässt, dann kommen die Amis und klauen die Idee und machen es besser. Immerhin den NASA gibt es noch, den haben sie behalten, den Nahverkehrsservice Sachsen-Anhalt.


Fazit: Kann man machen. Ist aber ein Geheimtipp, und sollte es bleiben.

 
Ui, wie schön!
Danke.

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Sehr gern geschehen! Ich danke auch.

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Man muss das verstehen, diese Gegend war ja, bis die Eisenbahn kam, wirklich weltfern, da müssen die sich erst noch dran gewöhnen. Ihre Beschreibungen liebe ich, mindestens, und für Beobachtungen wie die mit dem schnell vorgeschobenen Kinn, nun, das kann ich nicht schreiben.

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Hm, jetzt machen Sie mich aber neugierig. Und ein bisschen rot.

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